Mit Hinblick auf die akuten und langfristigen wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Krise fragten wir uns, wie wir als Produkt-Team schnell und direkt helfen können, unsere unmittelbare Umgebung, die Kölner Veedel, in denen wir leben und arbeiten, in ihrer Vielfalt zu erhalten.
Die von uns entwickelte gemeinnützige Gutschein-Plattform veedelsretter.koeln erzielte für Kölner Einzelhändler und Solo-Selbstständige innerhalb von nur sechs Wochen Erlöse von über 500.000 €! Wir und viele Beteiligte waren überwältigt. Ein derart emotional getriebenes Produkt war für uns beruflich wie persönlich neu und es war das Resultat einer schnell steigenden Zahl von Geschäften, der unendlichen Solidarität der Kölner und der Aufmerksamkeit der Medien. Von der Euphorie getragen schlug sich unser gesamtes Team viele Nächte um die Ohren und wir waren damit sehr zufrieden.
Die Einbußen durch den Lockdown sind noch lange nicht ausgestanden, vor allem die Kulturbranche leidet. Nachrichten zu neuen Regelungen und Lockerungen füllen die Nachrichtenkanäle, es bleibt spannend. Bei uns im Team ist derweil wieder Ruhe eingekehrt. Die Zeit nutzen wir für einen bewussten Rückblick aus der Distanz und Überlegungen zur Zukunft der Veedeslretter-Initiative.
Was diesmal anders war
Von der Idee über Konzept, Design, Entwicklung und Customer Support bis hin zu PR und Marketing – bei Veedelsretter kam alles aus einer Hand, unserer Hand. Dies ist wahrscheinlich der größte Unterschied zu unseren bisherigen Projekten: Wir haben zum ersten Mal eine Plattform komplett selbst aufgebaut, vermarktet und betreut. Wir waren unser eigener Kunde.
Es war eine tolle Erfahrung festzustellen, dass wir in über 10 Jahren Startup Biz durch unsere Projekte offenbar so viele unterschiedliche Skills angesammelt haben, dass wir als Team dazu imstande sind, unter Zeitdruck in einer verrückten gesellschaftlichen Phase ein eigenes Produkt rauszuhauen mit allem was dazu gehört. Natürlich war Veedelsretter ein dankbares Produkt: Wir hatten es stets in zwei Sätzen erklärt, es macht gute Laune und ist ganz offensichtlich gut und nachhaltig für die Gemeinschaft – “verkaufen” mussten wir unser Produkt daher nie wirklich, es fand jeder direkt gut. Weil es gut ist :-).
Es ist nicht so, dass wir in der Vergangenheit keine eigenen Projekte und Produkte gebaut haben, doch liegt der große Unterschied für uns darin, dass wir es hier mit einem wirklich sehr Nutzer-nahen Produkt zu tun haben, das nicht in erster Linie technisch ist. Wenn man sich unser bisheriges Portfolio eigener Produkte bis dato anschaut, sieht man viel aus dem Bereich “FinTech”-Tools wie die Fintechtoolbox.com oder die Ebics Box>) und dazu ein paar Nischenprodukte wie unsere Kickerapp, die wir wirklich aus Lust und Laune für uns und Gleichgesinnte entwickelt haben. Bei Veedelsretter ging es um mehr als das. Es ging schlicht um das finanzielle Überleben von Gewerbetreibenden, von Kultur, von Menschen in der Stadt – und das macht es einzigartig und auch zu einer ernormen Herausforderung, der wir uns stellen wollten.
Absolute Priorität war es also, schnellstmöglich Umsatz für Gewerbetreibende zu generieren, um deren Liquidität zu sichern. Der Registrierungsprozess für Gewerbetreibende war dabei leider relativ komplex und aufwändig, u.a. durch Identifizierungsmaßnahmen, mit denen wir sicherstellen, dass das eingesammelte Geld nicht in falsche Hände gerät. Bei über 1000 Registrierungen hatten wir hier eine Menge zu tun. Haben wir uns hierfür die Nächte um die Ohren geschlagen? Oh ja! Und zwar sehr gern!
Die ersten zwei Wochen vergingen wie im Flug, ein Adrenalinrausch, auch getrieben durch die Aufmerksamkeit von Presse und TV: 24 Stunden nach dem Launch hatten wir die ersten 10.000 € 🙌eingesammelt. Wir waren froh dieses Fieber mit KölnBusiness teilen zu können, jeder 100.000er-Schritt wurde groß in unserem gemeinsamen Slack-Channel gefeiert. Unsere Kollegen von KölnBusiness haben wir übrigens erst Anfang Juni zum allerersten Mal überhaupt live gesehen, nachdem wir zu diesem Zeitpunkt schon gute zwei Monate intensiv zusammen gearbeitet haben. Erst beim Treffen mit unserer Oberbürgermeisterin Henriette Reker im Cafe Goldmund war es dann soweit, dass wir uns treffen konnten. Bis dahin lief alles remote und es war von Anfang an viel Sympathie und Fokus für die Sache im Spiel.
Herausforderungen
Zum Glück hatten wir weder im Team noch in der grundsätzlichen Technik oder dem Betrieb Hindernisse zu überwinden, sondern vor allem in den Bereichen Customer Support und Payment:
Wie gehen wir mit der Unmenge an E-Mails und Telefonaten um? Wieviel Ressourcen brauchen wir hierzu? Je mehr Features dazu kamen, desto mehr mussten wir uns auf ein System verlassen können, das uns denKommunikationsfluss vereinfachte. Mit Freshdesk haben wir dann intuitiv eine passendeSoftware gefunden, mit der wir gut arbeiten konnten und die uns half Anfragen aufteilen und Wissen darüber für alle zentral verfügbar zu machen.
Eine weitaus größere Challenge ergab sich allerdings im Payment, was sich noch als anstrengende und lehrreiche Reiseerweisen sollte. FinTech – das können wir! Schließlich haben wir jahrelang für Kunden aus dem Kreditkarten- und Bankenbereich gearbeitet, haben Marktplätze entwickelt und eigene FinTech-Produkte. So jedenfalls unsere Überzeugung in den ersten Wochen.
Dann wurden wir als frischgebackener Betreiber einer Payment-Software eines besseren belehrt, als wir plötzlich feststellten, dass unser Lastschrift- und Überweisungssystem (wir zogen Geld bei Käufern ein und überwiesen es automatisiert weiter an Gewerbetreibende) in der Praxis ins Stocken geriet als offenbar Security Measures unseres Sparkassenkontos griffen und unsere eigene Software von Bank-Seite aus blockiert wurde. Veedelsretter war lahmgelegt. Offenbar haben wir in zu kurzer Zeit zu viel Geld von zu vielen Konten eingezogen und an zu viele fremde Konten weiterverteilt – da musste doch Betrug im Spiel sein! Bis wir das, was dort ablief, an den richtigen Stellen der Sparkasse ausreichend verständlich erklären konnten, so dass unser Konto wieder freigeschaltet wurde, vergingen ein paar unruhige Tage und wir verloren leider einige zehntausend Euro an nicht durchgeführten Käufen. Hätten wir es besser wissen können? Vielleicht, jetzt wissen wir auf jeden Fall, dass technische Lösungen, die in Testumgebungen und selbst in Produktion einwandfrei laufen, schließlich doch im Betrieb quasi über Nacht auf die Nase fallen können, wenn externe Dienste ihren Einsatz missverstehen und blockieren.
Ja, Selbstkritik muss sein: Denn wir wählten das Lastschriftverfahren auch, weil wir es uns als Ziel gesteckt hatten, dass Veedelsretter eine 100 % gebührenfreie Plattform für alle Beteiligten sein sollte – also alle Beteiligten bis auf uns ;-). Denn wir subventionierten in dem Fall die Bank-Gebühren. PayPal wäre im Einsatz deutlich teurer für die Kunden gewesen, dabei natürlich einfacher und schneller. Im Support zählte die Frage ”Geht nicht auch Paypal?” zu den häufigsten Fragen, die wir leider bis zuletzt verneinen mussten. Vielleicht waren wir an der Stelle zu dogmatisch unterwegs…😉 Gleichzeitig sind wir stolz darauf eine Plattform anbieten zu können, die keinerlei Gebühren verlangt und jeden Cent in die Veedel weiterreicht.
Die Marketing-Strategie kreiste in erster Linie um das Erzählen von Geschichten aus den Veedeln – Händler und Kölner haben seit März emotionale Talfahrten erlebt, hier galt es jedem eine Stimme zu geben und gleichzeitig die Vielfalt und den Charakter der Veedel zu betonen. Natürlich boten wir den Händlern Werbefläche, fokussierten uns aber darauf die Gesichter hinter den Läden und Dienstleistungen zu zeigen, die Wertschätzung für die eigentliche Arbeit zu unterstreichen und nur im kleinen Rahmen die eigentliche Produkte zu präsentieren. Durch das Verschaffen von Gehör für die Branchen stieg auch das Gemeinschaftsgefühl und die Zahl der verkauften Gutscheine.
Durch Fotos, Videos und Customer Support per Email und Telefon waren wir quasi Rund um die Uhr für allerlei Anliegen erreichbar, die Reichweite der Beiträge geht weit über die 10k Marke.
Was uns beim erstellen der Social Media Beiträge schnell auffällt – viele Händler sind auf den Kanälen nicht vertreten, einige besitzen überhaupt keine Onlinepräsenz. Es ist ein wenig so, als würden Teile im Puzzle fehlen, Läden, die das Veedel ebenfalls prägen können wir nicht verlinken, keine Geschichte erzählen. Zu unserer Freude stellt sich heraus, das viele erst durch die Initiative eine FB und Instagram Account angelegt haben und sich viele Überlegungen zu ihren Produkten und den Kunden gemacht haben, ob beim Erstellen von Texten oder der Auswahl von Gutscheinen.
Digitalisierung im Einzelhandel ist ein wichtiges Thema, niemand sollte hier abgehängt werden.
Schnell haben sich bei uns auch Vereine und Leute gemeldet die helfen oder kooperieren wollten.
Veedelsretter 2.0 – Wohin geht die Reise?
Die Veedelsretter wuchsen zu einer Idee für das Miteinander in der Stadt, einer finanziellen, mentalen und digitalen Stütze, einer Stimme für Vernetzung.
5 Dinge die wir gelernt haben
- Wir sind echt gut.
- Man muss sich nur anpassen können.
- Und Erfahrung.
- Und Bock haben.
- Und ein Team, dem man vertrauen kann, und jecke Kölner.
Passend zu unseren Zukunftsgedanken wurde im Kölner Rat ein Antrag der SPD eingereicht, der sich auf unsere Initiative bezieht. Dort ist die Rede von einem “ersten ganzheitlichen Schritt für den Aufbau von digitalen Veedeln […]ein „digitales Zusammenkommen“ mit Diskussionen und Austausch…” – haben wir tatsächlich was angestoßen? Allein die Idee hinter dem Antrag, die Möglichkeit neuer Infrastrukturen zählt. Mit der GLS Bank haben wir jetzt auch einen Partner, der uns geholfen hat ein Treuhandkonto zu eröffnen wodurch Zahlungen sicher und vertrauenswürdig abgewickelt werden können. Alles wichtige Themen die enormen Mehrwert bieten können, doch wie sieht eine Umsetzung aus?
Fest steht, wir sind bereit Netzwerke in den Veedeln zu stärken, auszuweiten und mithilfe des Web attraktiver für alle zu machen.
Wir sind mit Leidenschaft am Start für ein Web, das alle weiterbringt.
Besucht uns, teilt uns eure Gedanken mit auf railslove.com
Veedel gut, alles gut!